Digitaler Zwilling

Eine Brücke zwischen analoger und digitaler Welt – Teil 1/3

Am Anfang war das Buzzword

Als ich vor kurzem auf einem Innovationstreffen rund um das Thema digitaler Zwilling (englisch: Digital Twin, kurz DT) war, musste ich feststellen, dass der Begriff des DT ziemlich häufig nur als Buzzword benutzt wird und dementsprechend losgelöst von seiner eigentlichen Bedeutung verwendet wird. Verständlicherweise wird mit dem Begriff gerade sehr viel jongliert, da es ein spannendes Konzept ist, das in den letzten Jahren in unterschiedlichen Use Cases immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Umso wichtiger ist es, genauer hinzuschauen, was sich wirklich hinter dem Begriff verbirgt und was nicht.

Stellen Sie sich einmal vor: Eine Fabrik simuliert all ihre Maschinen digital, sodass Wartungen vorhergesagt, Produktionsausfälle vermieden und Optimierungsvorschläge für die einzelnen Prozesse automatisch erstellt werden können. Ein DT ist also eine digitale Abbildung realer Objekte und Prozesse, die weit über bloße Simulationen hinausgeht. Dabei finden sich Anwendungsmöglichkeiten überall dort, wo es darum geht, reale Abläufe zu erleben, besser zu verstehen oder zu vereinfachen.

Dieser Beitrag legt das Fundament der dreiteiligen Serie „Digitaler Zwilling: Eine Brücke zwischen analoger und digitaler Welt“, die sich mit den faszinierenden Möglichkeiten von DTs beschäftigt und die Leser*innen neugierig machen soll, tiefer in das Thema einzutauchen sowie alle Teilhabenden aus unserem Innovationsnetzwerk auf einen gemeinsamen Stand zu bringen. Als Aufschlag möchte ich mir mit Ihnen heute anschauen, was einen DT überhaupt zum DT macht und warum das Thema gerade jetzt so relevant ist. Der zweite Teil befasst sich mit der praktischen Umsetzung und zeigt Beispiele für reale Anwendungen in der Industrie und Stadtplanung. Der dritte Teil schlägt dann schließlich eine Brücke zur Mobilfunktechnologie und zeigt, wie DTs und ein leistungsfähiger Mobilfunk zusammenhängen und zugleich voneinander profitieren. Zudem wird ein Ausblick gegeben, was in der Zukunft von DTs noch zu erwarten ist.

Doch wieso ist das Thema „digitaler Zwilling“ gerade jetzt so interessant für uns?

Die zunehmende Bedeutung der DTs ist eng mit der fortschreitenden Digitalisierung, dem Bedarf an Effizienz und Nachhaltigkeit sowie der Verfügbarkeit moderner Technologien wie dem Internet der Dinge (IoT), künstlicher Intelligenz (KI) und 5G perspektivisch 6G verknüpft. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure erkennen zunehmend das Potenzial, physische Systeme zu simulieren, Prozesse durch digitale Nachbildungen zu optimieren und Entscheidungen durch diese in Echtzeit treffen zu lassen. Die rasante Entwicklung spiegelt sich in einer stetigen Steigerung der Marktanteile von DT-Produkten in den letzten Jahren wider.

Darüber hinaus prognostiziert BCC Research, dass der globale Markt für digitale Zwillinge im Jahr 2023 von geschätzten 11,5 Milliarden US-Dollar auf 119,3 Milliarden US-Dollar bis 2029 anwachsen soll, bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 45,7 Prozent (BCC Publishing 2024). Global Market Insights kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Sie schätzen, dass ein starkes Wachstum von 9,9 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 auf 125,1 Milliarden US-Dollar bis 2032 erfolgen wird, mit einer CAGR von über 33 Prozent (GMI 2024).

Um dieses Wachstum zu ermöglichen, muss bei der Umsetzung von DTs auf vier Schlüsseltechnologien zurückgegriffen werden: das IoT zur Echtzeit-Datenerfassung, Cloud-Lösungen zur Speicherung und Verarbeitung großer Datenmengen, erweiterte Realität (XR), die DT visuell in die physische Welt integriert, sowie KI, einschließlich Machine Learning und Deep Learning, um Daten zu analysieren, Muster zu erkennen und präzise Vorhersagen zu treffen (O’Brien 2023).

In diesem Kontext ist das Thema Mobilfunk von entscheidender Bedeutung. Gerade bei der Verarbeitung großer Datenmengen, aufgrund hoher Down- und Uplink-Geschwindigkeiten und niedriger Latenzen, können die technologischen Möglichkeiten von 5G und zukünftig 6G zum Tragen kommen. Durch den Ausbau der jeweiligen Mobilfunkgeneration wird eine leistungsstarke Infrastruktur geschaffen, mit deren Hilfe DTs präzise, schnell und zuverlässig umgesetzt werden können.

Auf der anderen Seite erleichtern DTs die Integration von 5G und 6G in den Mobilfunk, indem sie eine standardisierte digitale Repräsentation des Mobilfunknetzwerks und der Nutzergeräte bereitstellen. Dadurch können sie eine effiziente Verwaltung sowie eine Optimierung und Automatisierung von Mobilfunk-Komponenten in Industrie-4.0-Produktionsnetzwerken ermöglichen (5G-ACIA 2021). Darüber hinaus kann ein digitaler Zwilling bei der Verbesserung der Steuerung von Millimeterwellen-Kommunikationsnetzwerken helfen, indem er die Ausrichtung der Antennenstrahlen in Echtzeit verbessert, sodass die Leistung und die Zuverlässigkeit von Mobilfunksystemen gesteigert werden können (Heimann et al. 2023).

Der digitale Zwilling

Fangen wir mit der Begriffsgenese an.

Das Konzept von Nachbildungen, die einen Prozess imitieren, wurde bereits in den späten 1960er-Jahren von der NASA unter dem Begriff des Zwillings diskutiert (Deuter & Pethig, 2019). Damals steckten Computer in den Kinderschuhen und an das Internet in seiner heutigen Form war noch nicht zu denken. Dementsprechend spielte der digitale Raum in den Überlegungen noch keine Rolle. Die ersten Versuche, eine Art Ebenbild der realen Welt in einem digitalen Raum zu realisieren, wurden seit den 1990er-Jahren mit einer Vielzahl von Begriffen wie „Mirror Worlds“ oder „virtual counterpart“ beschrieben. Explizit wurde erstmals von dem Konzept, das die Eigenschaften des heutigen digitalen Zwillings vereint, unter dem Begriff „Mirrored Spaces Model“ im Jahr 2002 an der Universität Michigan in einem Vortrag von Michael Grieves im Zuge des Product Lifecycle Managements (PLM) gesprochen (Grieves, 2016). Zu diesem Zeitpunkt war allerdings noch keine praktische Umsetzung eines DTs möglich, da die technologischen Komponenten zu geringe Rechenleistung, fehlende oder geringe Konnektivitätsmöglichkeiten mit dem Internet, begrenzte Datenverarbeitungs- und Speicherfähigkeiten sowie unterentwickelte Algorithmen hatten (Singh et al., 2021). Letztendlich wurde der Begriff „Digitaler Twin“ im Jahr 2010 von Ingenieuren der NASA in Zusammenarbeit mit Michael Grieves mit inhaltlichem Kontext verbunden (bidt, 2024).

Was ist ein digitaler Zwilling nun eigentlich konkret?

Eine einheitliche Definition respektive die genauen Bestandteile und Voraussetzungen von DTs sind aufgrund der Vielzahl von Anwendungsbereichen nur schwer zu finden. Aus diesem Grund schauen wir uns eine Metastudie von Awasthi et al. (2024) an. Die Autor*innen analysierten renommierte Studien zwischen 2019 und 2023 und identifizierten 37 verschiedene Definitionen. Das folgende Zitat spiegelt das Ergebnis der Autor*innen wider:
„A computer-generated representation of tangible (object, system, service, product etc.) or intangible (world, environment etc.) assisted by the use of digital technologies that intends to provide fundamental improvement and operational revolution to an entity (a business organization, an industry or society) by exchanging the information“(Awasthi et al., 2024).

Mit anderen Worten handelt es sich bei einem DT um eine virtuelle Abbildung realer oder abstrakter Entitäten, die durch den Einsatz digitaler Technologien möglich wird. Dabei können sowohl physische Objekte wie Maschinen, Bäume oder Gebäude als auch immaterielle Konzepte wie Prozesse, Umgebungen oder ganze Systeme dargestellt werden. Ziel ist es, durch diese digitalen Darstellungen neue Erkenntnisse zu gewinnen, Abläufe zu verbessern und transformative Veränderungen in Unternehmen, Städten oder anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen zu erleichtern. Durch den synchronen Austausch von Daten und die Nutzung moderner Technologien wie KI, Augmented Reality (AR) oder VR können nicht nur Veränderungen in der analogen Welt in Echtzeit in die digitale Welt übertragen werden, sondern sich auch Veränderungen beim virtuellen Abbild direkt auf die Entität in der analogen Welt auswirken. Darüber hinaus können zukünftige Entwicklungen mit Hilfe von Simulationen geschätzt werden.

Die Eigenschaften, die einen DT ausmachen, beschreibt Singh et al. (2021) als hohe Genauigkeit, dynamische Anpassungsfähigkeit, Selbstentwicklung, Identifizierbarkeit sowie die Fähigkeit, auf mehreren Skalen, physikalischen Domänen und Disziplinen zu operieren (Singh et al., 2021). Darüber hinaus muss ein DT auf den physikalischen Eigenschaften der analogen Welt basieren, damit realistische Simulationen und Emulationen im digitalen Raum überhaupt ermöglicht werden können. Um die reale Welt abzubilden, sind DTs hierarchisch strukturiert. Das bedeutet, dass sich ein Element in einem Subsystem befindet, das wiederum in einem übergeordneten System angesiedelt ist. Oder anders ausgedrückt: Ein Bauteil (Element) befindet sich in einem Roboter (Subsystem), welcher sich auf einem Maschinenkomplex (übergeordnetes System) befindet. Die Darstellungsmöglichkeiten reichen dabei von hochdetaillierten 3D-Modellierungen bis hin zu eigenschaftstabellarischen Darstellungen von Kennwerten, wie sie etwa in der Asset Administration Shell (AAS) verwendet werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Genauigkeit und der Umfang der verwendeten Daten, da sie darüber entscheiden, in welchem Detailgrad eine digitale Nachbildung existiert. Je nach Umfang der erfassten Variablen lassen sich drei verschiedene Arten von DTs unterscheiden: ein Partial DT, der nur einige relevante Variablen des Systems verwendet, ein Clone DT, der alle relevanten Variablen des Systems erfasst, und ein Augmented DT, der nicht nur alle relevanten Variablen enthält, sondern auch historische Daten zur Analyse und Vorhersage zukünftiger Entwicklungen. Diese Unterscheidung ist essenziell, um die Nutzung digitaler Zwillinge gezielt an den jeweiligen Anwendungsfall anzupassen und die benötigte Datenbasis effizient zu bestimmen.

Nicht alle digitalen Nachbildungen sind automatisch digitale Zwillinge!

Zum Schluss des ersten Teils ist es noch einmal zwingend notwendig, zwischen verschiedenen Stufen digitaler Nachbildungen zu unterscheiden. Denn nicht jede Nachbildung ist auch gleich ein DT. Im Begriff des DTs steckt immanent, dass Veränderungen, die in der analogen respektive digitalen Welt passieren, in der jeweils anderen Welt gleichzeitig auftreten. Sobald sich etwas in der physischen Welt anpasst und es sich im digitalen Raum synchron verändert, aber nicht vice versa, spricht man streng genommen nicht mehr von einem DT, sondern von einem digitalen Schatten (englisch: Digital Shadow). Darüber hinaus verwendet man den Begriff digitales Modell, wenn Veränderungen in beiden Welten separat angepasst werden müssen und es keinen direkten Austausch zwischen der realen und virtuellen Entität gibt.

Digitale Zwillinge, digitale Schatten und digitale Modelle sind längst in der Realität angekommen. Mit weiteren technologischen Fortschritten werden sie zunehmend zum zentralen Bestandteil digitaler Transformationen in Industrie und Gesellschaft. Wie sich das in der Praxis bereits heute darstellt, schauen wir uns im nächsten Teil an.

 

Literatur:
5G-ACIA. (2021). Using Digital Twins to Integrate 5G into Production Networks (White Paper). https://www.5g-acia.org
Awasthi, K., Padwekar, K., & Misra, S. (2024). Digital Twin: Eine vereinheitlichte Definition, Herausforderungen, Probleme und Chancen. https://doi.org/10.4018/978-1-6684-7366-5.ch074
Bayerisches Forschungsinstitut für digitale Transformation. (2024). Digital Twin. Abgerufen am 20. Januar 2025 von https://www.bidt.digital/glossar/digital-twin/#:~:text=Der%20Begriff%20Digital%20Twin%20wurde,Konstrukt%20des%20Digital%20Twin%20erweitert
BCC Publishing. (2024). Global Digital Twin Market. Abgerufen am 21. Januar 2025 von https://www.bccresearch.com/market-research/engineering/digital-twin-market.html
Deuter, A., & Pethig, F. (2019). Die Theorie des Digital Twin. Industrie 4.0 Management, 2019(1), 27–30. https://doi.org/10.30844/I40M_19-1_S27-30
Global Market Insights. (2024). Digital Twin Marktgröße – Nach Anwendung (Produktdesign & Entwicklung, Maschinen- und Ausrüstungsüberwachung, Prozessunterstützung & Service), Nach Endnutzung (Produktion, Gesundheitswesen, Automobil, Luft- und Raumfahrt & Verteidigung, Energie) und Prognose, 2024 – 2032. Abgerufen am 21. Januar 2024 von https://www.gminsights.com/industry-analysis/digital-twin-market
Grieves, M. (2016). Ursprünge des Digital Twin-Konzepts. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.26367.61609
Heimann, K., Häger, S., & Wietfeld, C. (2023). Demo Abstract: Experimentelle 6G-Forschungsplattform für das Beam-Management des Digital Twin. Proceedings der Internationalen ACM Symposium on Mobility Management and Wireless Access (MobiWac ’23), 30. Oktober – 3. November 2023, Montreal, QC, Kanada (S. 1–4). ACM. https://doi.org/10.1145/3616390.3618282
O’Brien, S. (2023). 5 Anwendungsfälle von Digital Twins. Abgerufen am 23. Januar 2023 von https://www.computer.org/publications/tech-news/trends/digital-twin-use-cases
Singh, M., Fuenmayor, E., Hinchy, E., Qiao, Y., Murray, N., & Devine, D. (2021). Digital Twin: Ursprung bis Zukunft. Applied System Innovation, 4(2), 36. https://doi.org/10.3390/asi4020036

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