Wearables im Gesundheitswesen – Perspektiven und Herausforderungen

Interview mit Bettina Horster, Vorstand von und Leiterin des Bereich Business Development beim Unternehmen VIVAI.

Wearables – das sind am Körper tragbare technische Geräte, die Gesundheitsdaten tracken, wie bspw. Smart Watches. Und deren Umsatz ist laut den Marktanalysten von IDC innerhalb der vergangenen zwei Jahre rapide gestiegen. Allein im Jahre 2022 berichtet IDC von einem Anstieg um 9,4%. [1]

Gleichzeitig kommen Wearables längst nicht mehr nur im Fitness- oder Wellness-Bereich zum Einsatz, sondern können auch in medizinischen Szenarien nützlich sein – etwa im Bereich der Überwachung von Patient*innen-Vitaldaten mittels elektronischer Pflaster.

Das Unternehmen VIVAI verfolgt ein weiteres wichtiges Ziel: Ältere Menschen sollen mithilfe von Wearables in ihrerer Eigenständigkeit unterstützt werden und dadurch länger in den eigenen vier Wänden statt einer Pflegeeinrichtung leben können. Hannah M. Seichter sowie Alexander Engel von der Bergischen Universität Wuppertal sprachen mit Bettina Horster auf dem Mobile World Congress in Barcelona zum Thema Wearables innerhalb des Gesundheitswesens, auch unter Nutzung von 5G.

Hannah M. Seichter: Was macht für Sie die besondere Relevanz von Wearables innerhalb der Digitalisierung des Gesundheitswesens aus? Sind sie aus Ihrer Sicht ein zentraler Trend?

Bettina Horster: Ich persönlich denke, dass der Fokus nicht unbedingt auf Wearables und Non-Wearables liegen sollte. Gerade bei älteren Menschen haben wir das Problem, dass Wearables wie Smart Watches nicht zuverlässig getragen werden oder nicht getragen werden wollen. Wir verwenden Wearables meistens nur im Schlaflabor und für das Tracking draußen.

Hannah M. Seichter: Sollten die Nutzer*innen von Wearables stärker in die Innovations- bzw. Technologieentwicklung mit einbezogen werden?

Bettina Horster: Ich denke schon. Wir bei VIVAI hatten beispielsweise die Möglichkeit, die Daten unserer Nutzer*innen einzusehen, da wir user-centric, also benutzer*innenorientiert, programmieren. Auf diese Weise konnten wir immer sehr gut erkennen, was diese Personen wirklich wollen – oder auch nicht wollen. Ergänzend dazu haben wir sie persönlich gefragt, welche technischen Hilfsmittel ihnen mehr und welche ihnen weniger wichtig sind. Das hat uns ein besseres Bild gegeben. So dachten wir beispielsweise, dass unsere Benutzer*innen die „Z-Wave-Waage“, sehr praktisch finden würden.

Hannah M. Seichter: Bei der Waage handelt es sich um ein Gerät, welches den drahtlosen Kommunikationsstandard Z-Wave, der innerhalb der Heimautomation zum Einsatz kommt, verwendet. Mithilfe dieses Kommunikationsstandards sind zusätzliche gesundheitsdatenbezogene Funktionen wie die Messung des individuellen Körperfett, -wasser und -muskelanteils möglich.

Bettina Horster: Genau. Am Ende stellte sich unsere Vermutung gegenüber dieser Waage allerdings als Trugschluss heraus: Die meisten der von uns befragten Personen nutzen diese Waage nicht, weil sie bereits eine Waage hatte und diese nicht wechseln wollten.

Hannah M. Seichter: Sie haben gerade einen wichtigen Punkt auch im Gesundheitsbereich angesprochen, das Thema Datenschutz. Inwiefern war der Datenschutz eine Herausforderung für Ihre Forschung?

Bettina Horster: Da es sich um Gesundheitsdaten handelt, die in die höchste Kategorie des Datenschutzes fallen, muss genau überlegt werden, was mit den Daten geschieht. Die Tatsache, dass wir regelmäßig eine Datenschutz-Folgenabschätzung durchgeführt haben, war für uns sehr hilfreich. Auf diese Weise mussten wir uns immer wieder die Fragen stellen: „Ist das richtig und sicher?“ und „Was können oder müssen wir tun?“. Wir haben zum Beispiel eine SIM-Karte, die eine Hardware-Verschlüsselung macht. Das Abhören des Gerätes ist also eigentlich nicht möglich. Es gibt natürlich noch andere Schnittstellen, die überprüft werden müssen. Das haben wir auch sehr sorgfältig gemacht. Außerdem werden auch die richtigen Einwilligungen benötigt. Wir haben zum Beispiel sechs Rechtsgutachten erstellen lassen. Es gibt also eine ganze Menge zu beachten. Für junge Unternehmen, die nicht so viel Geld zur Verfügung haben, ist das wiederum nicht so einfach.

Hannah M. Seichter: Sie haben letztes Jahr auf dem Mobile World Congress einen Vortrag dazu gehalten, wie das Internet der Dinge Prozesse innerhalb der Altenpflege bereichern kann. Dort haben Sie betont, dass perspektivisch auch Devices eingesetzt werden sollten, die 5G nutzen. Als Vorteil haben Sie die höhere Energieeffizienz genannt. Gibt es weitere Punkte, die Sie ergänzen möchten? Gibt es aus ihrer Sicht Herausforderungen, wenn es um eine Nutzung von 5G geht?

Bettina Horster: Wenn sich 5G durchsetzt, ist für mich klar, dass die fünfte Mobilfunkgeneration der Standard sein wird, der IoT unterstützt und auf Energieeffizienz ausgelegt ist. In unserem WLAN sind beispielsweise fünf verschiedene Antennen angeschlossen. Wenn wir Smart Home Devices daran anschließen, ist das nicht wirklich energieeffizient. Insofern freuen wir uns natürlich, wenn die Forschung an 5G weitergeht. Aber im Moment sind die Hersteller*innen von Geräten und Sensoren leider noch nicht so weit. Da müssen wir uns noch etwas Geduld haben.

Hannah M. Seichter: Das heißt: Die Infrastruktur für Smart Devices ist da, aber es scheitert an der Anbindung an die Technik bzw. an die fähigen Endgeräte?

Bettina Horster: Das ist richtig. Viele verschiedene Antennen in einem WLAN-Netz zu verbinden, ist nicht billig und auch technisch sehr schwierig. Aufgrund der Technik muss sehr darauf geachtet werden, dass es nicht zu Interferenzen kommt. Mit 5G entfällt das.

Hannah M. Seichter: Über das Thema Wearables haben wir bereits gesprochen. Gibt es weitere zentrale Themen im Gesundheitswesen bzw. in der Telemedizin, die Sie gerade im Hinblick auf die Digitalisierung nennen würden?

Bettina Horster: Meiner Meinung nach ist unser gesamtes Gesundheitssystem im Bereich der Digitalisierung im Vergleich zu anderen Ländern im Rückstand. Das ist etwas, was ich persönlich sehr beschämend finde. Wenn wir nach Estland oder Polen schauen: Dort gibt es bereits die E-Patientenakte und das E-Rezept. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Transparenz in Deutschland nicht gewollt ist. Meistens wird der Datenschutz vorgeschoben, aber das sind aus meiner Sicht nur Ausreden. Natürlich ist es wichtig, dass die Menschen ihre Einwilligung gegeben haben.

Wir würden auch gerne die Medikamentenerinnerung direkt aus dem E-Rezept in unser WLAN schieben. Technisch ist das ganz einfach. Das Problem ist nur, dass es kein flächendeckendes E-Rezept gibt. Die Ärzt*innen scheinen von dem Konzept nicht wirklich überzeugt zu sein. Das Gleiche gilt für die Vitaldatendokumentation direkt in das Pflegeinformationssystem: Hier gibt es zu wenig proprietäre Schnittstellen. Die müssten eigentlich einheitlich sein, wie bei den Krankenhausinformationssystemen. Da ist ein gewisser Standard vorgeschrieben. Wenn der nicht erfüllt wird, bekommt man auch kein Geld. So stelle ich mir das auch in der Pflege vor. Das wäre wirklich wichtig.

Hannah M. Seichter: Auf dem Mobile World Congress 2019 leitete ein Arzt via Video Stream unter Nutzung von 5G einen chirurgischen Eingriff an einem Patienten an, der sich mehr als 2 Kilometer entfernt befand; auf dem diesjährigen Congress hingegen findet sich die Digitalisierung des Gesundheitswesens hingegen nur noch sporadisch. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?

Bettina Horster: Es ist einfach ein sehr schwieriges, problematisches Thema, an das sich die Leute im Moment nicht herantrauen. Ich glaube, viele Unternehmen haben sich an dem Thema „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ eine blutige Nase geholt. Letztes Jahr war der Mobile World Congress noch vollgepackt mit E-Health-Themen. In diesem Jahr muss ich auch sagen, dass es im Vergleich zum letzten Jahr sehr viel weniger ist. Ich finde es gut, dass Sie das auch gemerkt haben.

Alexander Engel: Ich finde es interessant, dass Sie bei dem Thema „Gesundheitswesen“ die aktuellen Probleme angesprochen haben, wie z. B. die E-Akte. Wenn ich mir unser Competence Center 5G.NRW anschaue, in dem ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig bin, dann ist immer wieder die Rede von Teleoperation oder von autonomen Technologien. Ähnlich verhält es sich bei den 5G-Projekten, welches das Land NRW im Rahmen seiner 5G-Förderwettberbe fördert, die sich auch mit dem Thema Gesundheit beschäftigen – allen voran GIGA FOR HEALTH: Wie schätzen Sie das ein?

Bettina Horster: Meiner Meinung nach kann Telehealth viele Probleme lösen. Aber auch hier gibt es Organisationen und Menschen, die nicht mitziehen wollen. Aber wenn wir nicht langsam anfangen, darüber nachzudenken, werden wir viele wichtige Chancen verpassen. Das Problem liegt weniger bei den Herstellern, die würden gerne. Wir haben eine komplexe Gemengelage, die es einfach sehr schwierig macht. Aber ich habe den Eindruck, dass es nicht nur in Deutschland so ist, sondern in vielen europäischen Ländern. Wir kennen Healthcare seit vielen Jahren, aber wenn ich mir vorstelle, dass ein junges Unternehmen jetzt irgendwie in dem Bereich durchstarten soll, das ist schwierig. Wir sind mit unseren Rechtsgutachten im sechsstelligen Bereich. Ich sehe nicht, wie das ein junges Unternehmen stemmen könnte. Ich habe oft das Gefühl, denen geht auf dem Weg die Puste aus. Die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis hat zum Beispiel über drei Jahre gedauert und so viel Geld gekostet, weil wir für alles Studien und Gutachten gebraucht haben. Auch das können sich junge Unternehmen nicht leisten. Bei den DiGAs (Digitale Gesundheitsanwendungen) habe ich das Gefühl, dass die Kassen noch nicht so begeistert sind.

Alexander Engel: Ich habe eine Anschlussfrage: Wen sehen Sie als zentralen Treiber, diese Technologie auch einzusetzen? Wer sollte stärker gefördert werden?

Bettina Horster: Der Pflegenotstand ist meines Erachtens unser eigentliches Problem. Wir haben zu wenig Menschen, die sich für diesen Beruf entscheiden. Diejenigen, die sich für diesen Beruf entscheiden, sind unzufrieden. Sie müssen zu viele Dinge tun, die sie sich nicht ausgesucht haben. Das ist ein Problem.

Alexander Engel: Also problemorientiert vorgehen?

Bettina Horster: Ich glaube, dass die Technologie die einzige Lösung ist. Ohne die Technologie können wir das Problem des Pflegekräftemangels in Pflegediensten, Krankenhäusern und Altenheimen nicht lösen.

Hannah M. Seichter: Sie haben den demografischen Wandel genannt, wenn es um gesellschaftliche Herausforderungen oder Trends geht. Gibt es noch andere Entwicklungen, zum Beispiel im wirtschaftlichen Kontext, die Sie für zentral halten? Sie haben den Pflegenotstand genannt, gibt es aus Ihrer Sicht noch andere?

Bettina Horster: Wenn wir etwa den Einsatz eines Krankenwagens vermeiden können, dann ist das auch volkswirtschaftlich sehr vorteilhaft. Die Barmer zum Beispiel gibt fast eine Milliarde Euro für Krankentransporte aus. Das sind nicht alles Rettungstransporte, aber ein großer Teil davon. Wenn es uns gelingt, diese Prozesse zu vereinfachen und zu verbessern, dann können wir in diesem Bereich eine ganze Menge herausholen.

Hannah M. Seichter: Ein bisschen kritisch stelle ich mir natürlich auch die Frage: Wenn ich jetzt Wearables einsetze, geht das auf Kosten des persönlichen Kontaktes? Auf der einen Seite habe ich weniger Leute in der Betreuung und damit einen Notstand, der durch technische Hilfsmittel reduziert werden könnte. Gleichzeitig sind solche Hilfsmittel digitaler und weniger greifbar. Werden diese Bedenken auch von Ihren Nutzer*innen geäußert?

Bettina Horster: Bei den meisten ist es einfach die pure Not, dass sie etwas brauchen und nicht bekommen können. Wir würden nie sagen, dass wir einen Menschen substituieren könnten. Das ist für uns auch gar nicht möglich. Wir müssen aber in dem Rahmen, in dem wir uns jetzt befinden, nach Auswegen suchen. Ich glaube, es ist ein bisschen einfach zu sagen: „Na ja, der Mensch wäre wichtiger.“ Ich glaube, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Das Beste wäre es natürlich, wenn sich alle eine 24-Stunden-Betreuung leisten könnten, das wäre ideal. Aber ich glaube, das ist illusorisch zu denken. Wir müssen nach anderen Lösungsmöglichkeiten suchen und das ist eine davon. Es ist nicht die Gesamtlösung, aber es ist ein wesentlicher Teil der Lösung.

Alexander Engel: Diese AAL-Technologien (Ambient Assisted Living-Technologien; in Deutschland auch Altersgerechte Assistenzsysteme genannt) gibt es schon lange und setzen sich aus unterschiedlichen Gründen nicht so recht durch – u.a. aufgrund ihrer Präsentation als ‚Kranken- oder Krankheitsprodukte‘ und der damit einhergehenden Stigmatisierung. Sie haben in Ihrem Vortrag gesagt, dass Sie diese Stigmatisierung vermeiden wollen und versuchen, das mit ihren Produkten anders anzugehen. Hat gerade dieser Markt heute eine größere Chance als vor 10 Jahren und wenn ja, warum? Was ist Ihr Gedanke dahinter?

Bettina Horster: Da sind wir wieder bei dem eklatanten Personalmangel und der Tatsache, dass die „Babyboomer“ jetzt in ein gewisses Alter kommen. Das Ganze verschärft sich noch. Insofern haben wir eine ganz andere Situation als vor 10 Jahren. Vor 10 Jahren war die Sensorik auch noch nicht so ausgereift wie heute. Viele Dinge gab es auch noch nicht, zum Beispiel die Sturzsensorik. Das sind KI-Systeme, die es erst seit kurzer Zeit gibt und die auch seit kurzer Zeit erst sehr gut funktionieren. Der technologische Fortschritt ist ein wesentlicher Treiber dafür, dass es jetzt funktioniert.

 

Nähere Informationen zu den Projekten Competence Center 5G.NRW sowie GIGA FOR HEALTH finden sich auf https://5g.nrw/ bzw. https://www.uniklinik-duesseldorf.de/forschung-lehre/5g-medizincampus.

 

[1] vgl. https://www.idc.com/promo/wearablevendor